Magic Mountain Night am THG:
Als Thomas Mann vor hundert Jahren seinen in einem Davoser Sanatorium spielenden Roman „Der Zauberberg“ veröffentlichte, war die Welt eben dem ersten Weltkrieg entkommen und steuerte auf den zweiten zu. Er aber siedelt seinen Roman vor dem ersten großen Krieg an und zeigte, wie feste Überzeugungen schwankten und wie eine „dekadente, kranke Gesellschaft“ in ihren Untergang taumelte. Eine große Spannung lag in der Luft, Streit um die großen Fragen und dazwischen ein junger Mann, Hans Castorp, der Orientierung suchte, sie aber zusehends verlor.
Da Orientierungsverlust auch ein Merkmal unserer heutigen Zeit ist, bot unsere Aula am vergangenen Mittwoch, dem 19. Februar, ein Abbild dieses Zeitphänomens. „Wo muss ich hin?“ und „Wo geht es los?“ waren dementsprechend die häufigsten Fragen des zahlreich hereinströmenden Publikums. Die Aula bot einen Jahrmarkt der Möglichkeiten, frei nach Settembrini (dem zuversichtlichen Aufklärer im Roman): „Der Berg ist heute zaubertoll,/ Und wenn ein Irrlicht Euch die Wege weisen soll,/ So müßt Ihr’s so genau nicht nehmen.“
Visuell bezaubernd und eindrucksvoll zugleich waren die massiven Berge im Eingangsbereich, wie vom Davoser Ludwig Kirchner gemalt, ein Hindernis und zugleich eine Werkstatt, denn die Berge wuchsen und wuchsen unter der Hand emsiger Maler:innen (Kurs Heske).
Einlassen konnte sich das Auge auch auf die Leinwand im hinteren Bühnenbereich, wo ein Nonstop-Video über hundert THG-Insassen auf Liegestühlen zeigte, die im ständigen Wechsel von Augen auf und Augen zu den Überdruss an der Welt zu zelebrieren schienen. Oder auf das Schneegestöber im Glas, wo man sich zwischen apollinischer Logik und dionysischen Abgründen nur schwer entscheiden konnte (Kurs Bank).
Wer seine Ohren bemühte, konnte nicht nur wie im einstigen Davos „Lärm und Gelächter“ im ganzen Saale ausmachen, sondern auch einen zarten Soundteppich (Moritz K.), der immer mehr anschwoll. Und aus den Ecken drangen die verschlungenen „Zauberberg“-Sätze ans Ohr – und tatsächlich, auch auf Englisch (Antonia E.) und Französisch (Anke H.) klangen sie wie Musik.
Nach und nach stellte sich Orientierung ein, indem man sich in die verwinkelten Ecken schlug und auf eines der vielen Angebote einzulassen vermochte. Wer ein anderes Ich ausprobieren wollte, begab sich in die Fotobox (Kurs Meyfahrt), Kreative verwandelten Lyrik in Kunstwerke (Kurs Tertilt), die Tiefsinnigen ließen sich auf literarisch-philosophische Gespräche über Tod und Humor ein (Kurs Gatzemeier) oder nahmen gleich an einer der geheimnisvollen Séancen im Schatten des zaubertollen Geschehens teil (Kurs Koebernick/Kpekpassi). Die ganz Mutigen begaben sich in die Isolierstation (11D/Klauser) und erfuhren dort, dass jeder vierte Mensch mit dem Mycobakterium tubercolosis infiziert ist. Wer mehr Input zum Roman brauchte, konnte sich in der historischen Ausstellung (Kurs Schweiger) belesen oder sich in hell beleuchteten Vitrinen durch von Karies befallene Knochen erschrecken lassen.
Das „neue Mekka der Schwindsüchtigen“, so ab 1878 das offizielle Motto von Davos, bot zahlreiche Zerstreuung, um sich von der Ansteckungsgefahr ablenken zu lassen. Dr. Güntz und Dr. Dulle von Radio MMN (Heske/Dillmann) versuchten mit furchtlosen Hüpfern gute Stimmung zu verbreiten. Ein internationales Ärzteteam zog seine Runden, klopfte auch mal sachte am Brustkorb an, stellte verkürzten Atem fest oder maß Fieber. Wurde ein Rasseln festgestellt, empfahl man „stille Liege“ auf einem der zahlreichen Liegestühle (Dank den Leihgebern von der „Eiswiese“!).
Fiebernde und Blutspuckende wurden auf Bergspaziergänge geschickt. Hoch oben in der guten Luft weiteten sich die Lungen und trotz des immer dichter aufziehenden Nebels konnte man unter kundiger Anleitung (Kurs KBN/KPE) mit dem Fernglas durch das wimmelnde Treiben endlich etwas Orientierung erhaschen und erschreckte zugleich, wenn man tief unten im Tal einen gräulichen Hexensabbat entdeckte.
Die Bühne wurde zur Stage, vier Saxofone, eine Trompete, Bass, Gitarre und verschiedene Schlagwerke heizten die Stimmung an und verbreiteten Optimismus: „Don’t let your life go to waste/ Now is the time, got to make up your mind/ Let it shine on you“ (Band „Red flies“ mit Mia), obwohl ein Professor warnte: „Das Selbstbewusstsein der Optimisten hat in den letzten zehn Jahren einen Dämpfer bekommen“ (Andreas Busch).
Es war eine merkwürdige Leichtigkeit in der Welt. Trotz der zahlreichen Tuberkel in der Sphäre und trotz des sich immer dichter zusammenziehenden Nebels konnte jeder es spüren: Das Ungeheuerliche in Form der Pandemie lag hinter uns, aber auch als etwas Ungewisses vor uns. Wissen wir doch: „Jede Epoche hat die Epidemie, die sie verdient“ (Karl Kraus).
In Analogie zu der Davoser Verordnung „Cognac in hohen Dosen“ wurden freundlich leuchtende Ingwer-Shots verabreicht (11 D/KLA), nach deren Konsum sich eine fröhliche Unbeschwertheit einstellte. Der Promenadenweg wurde zum Promilleweg und die Festlaune stieg, als sich vom Skisport gekräftigte Körper zu rhythmischen Klängen durch den Saal bewegten (Kurse Gerken/Aha). Und als dann auch noch Damen mit schwerem Pelzbesatz und schwindelerregenden Stilettos sowie Männer in Frauenkleidern die Hüften schwangen, war die Stimmung vollkommen.
Und mittendrin stand reichlich verloren mit seinem kleinen Koffer unser Held Hans Castorp (Keno L.), mit einem „Herz in allen Zuständen, einem Puls, – mal fadenförmig und kaum zu fühlen, das Gehirn in einer merkwürdigen Aufregung“ und ließ sich dazu überreden, er habe steigende Temperatur. Selbst an diesem Ort des Lernens wurde ihm deutlich, dass Bildung allein kein Allheilmittel sein könne (Leo L.). Und unter paradoxen Einsichten ließ er sich davon überzeugen, seine Krankheit als etwas Positives zu begreifen: „Die Luft hier bei uns, die ist gut gegen die Krankheit, aber sie ist auch gut für die Krankheit, sie fördert sie erst einmal, sie revolutioniert den Körper, sie bringt die latente Krankheit zum Ausbruch“ (Kurs Jumah).
Die Zuschauenden sahen ihn mitleidig an und fragten sich zugleich besorgt, welche latente Krankheit sie in sich trugen. Doch schon bald wich die Beklemmung wieder einer festlichen Stimmung und so ließ man sich noch lange im Saal treiben und verscheuchte alle Dämonen in die herabsinkenden Nebelschwaden.
Ein sehr herzlicher Dank gebührt allen Beteiligten für ihr weit über das „Normale“ hinausgehende Engagement und natürlich wie immer ebenso unserem Technik-Team, ohne das alle Lifte stehenbleiben!
P.S. Auch die HNA war auf dem Zauberberg zu Gast und berichtete: https://www.hna.de/lokales/goettingen/goettingen-ort28741/goettinger-gymnasium-feiert-thomas-manns-zauberberg-93591081.html
Text: SLE/Fotos: STA