Die Verfassung der DDR als staatsgefährdender Gegenstand

Besuch von Rainer Müller aus Leipzig

Am 08.10.15 besuchte der DDR-Bürgerrechtler und Oppositionelle Rainer Müller aus Leipzig zusammen mit Annette Rehfus-Simon vom Zeitzeugenprojekt der Freien Altenarbeit Göttingen e.V. unsere Schule, um ca. 200 interessierten Schülerinnen und Schülern der Jahrgänge 9 bis 12 von seinen Erfahrungen mit dem DDR-Regime, der staatlichen Repression und dem Ende der 1980er Jahre erstarkenden Widerstand gegen die SED-Diktatur zu berichten.

Rainer Müller erlebte schon in seiner Jugend den mächtigen Einfluss und die umfassende Kontrolle des Staates, als er als Neuntklässler den Stoffbutton mit dem Bibelspruch "Schwerter zu Pflugscharen" gegen die Aufrüstungspolitik von USA und UdSSR trug und bei Mitschülern verteilte. Systematisch wurde er in der Klasse, vor dem Lehrerkollegium und der Schuldirektion bloßgestellt und isoliert, der Zugang zum Abitur wurde dem Klassenbesten verweigert, er machte eine Ausbildung zum Maurer. Arbeiten konnte er in diesem Beruf allerdings nur in kirchlichem Auftrag, da die SED ihm wegen seiner offenen kritischen Haltung nicht nur am Ein-Parteien-System, sondern auch an der Umweltverschmutzung und dem Umgang mit den Arbeitern aus dem "sozialistischen Bruderland" Vietnam ein Berufsverbot auferlegte. 

Die Kirche zeigte sich generell als Schutzraum für Andersdenkende und Kritiker der bestehenden Verhältnisse. So formierte sich in kirchlichen Räumen allmählich der Widerstand gegen die bestehenden Verhältnisse – hier konnte man sich relativ ungestört treffen und austauschen, wenngleich die Treffen von Rainer Müllers Gruppe offiziell als "Geburtstagsfeiern" deklariert wurden und einige Teilnehmer informelle Mitarbeiter der Stasi waren. Unter anderem aus den Friedensgebeten in der Leipziger Nikolaikirche entwickelte sich dann 1989 die Protestbewegung, die die Friedliche Revolution und im Folgenden die Wiedervereinigung einleitete. 

Rainer Müller, der mehrfach inhaftiert wurde und dessen Stasi-Akte man im Internet einsehen kann, erzählt intensiv und dicht. Auf die Nachfrage eines Schülers, ob er denn auch Gutes an der DDR finden könnte, kann er, der schon "als Viertklässler gespürt hat", dass die Menschen sich im öffentlichen Raum nicht ehrlich verhalten, nur persönliche Erlebnisse nennen.

Die Doppelmoral der SED-Diktatur zeigte sich besonders zynisch, als bei einer Razzia in Müllers Wohnung 75 staatsgefährdende Gegenstände sichergestellt werden. Ganz oben auf der Liste: die mit Unterstreichungen bearbeitete Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik.

Wir danken Rainer Müller für seinen interessanten Besuch und Annette Rehfus-Simon für die Moderation und Vermittlung des Kontaktes.

KBN

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